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Klimaziel: Zehren vom »Emissionspuffer«
Deutschland hält die Vorgaben zur Minderung des CO2-Ausstoßes ein. Allerdings nicht dank politischer Maßnahmen
Forscher, die sich mit Emissionsprognosen befassen, sind nicht zu beneiden. Schauen wir auf das deutsche Klimaschutzgesetz. Bei dessen Start 2021 lagen die jährlichen CO2-Emissionen bei 729 Millionen Tonnen. Im Zieljahr 2030 sollen es nur noch 438 Millionen sein. Das gesamte CO2-Budget, das per Gesetz über die zehn Jahre gewissermaßen verwaltet wird, beträgt knapp 6,2 Milliarden Tonnen. Geht es darum, solche Emissionsmengen nicht zu überschreiten, wird oft auf die Klimapolitik geschaut, auf den Ausbau der Erneuerbaren oder das Wachstum bei E-Autos und Wärmepumpen. Blickt man aber zurück und in die Gegenwart, haben häufig nicht klimapolitische Maßnahmen die größte CO2-Wirkung, sondern ganz andere Effekte.
Im Falle Deutschlands waren das nach 2020 die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg mit seiner Energiepreiskrise sowie die seit mindestens drei Jahren anhaltende Wachstumsschwäche. Vor allem aufgrund dieser Sondereffekte und Krisen baute Deutschland bis Ende 2024 einen enormen CO2-»Puffer« auf. Derzeit beträgt er etwas mehr als 110 Millionen Tonnen und wird bis Ende 2030 auf etwa 80 Millionen Tonnen abgeschmolzen sein. Das sagt das Umweltbundesamt (UBA) in seiner jüngsten, im März vorgelegten Prognose für 2030 voraus – und diese bestätigte nun der für die Prüfung zuständige Expertenrat für Klimafragen am Donnerstag.
Die unmittelbare Folge: Die Regierung muss in diesem Jahr keine zusätzlichen Klimamaßnahmen in Angriff nehmen. Es bleibt aber gesetzliche Pflicht, bis März 2026 ein neues umfassendes Klimaschutzprogramm zu beschließen, betont der Klimarat. Erste Vorstellungen müssten die Ressorts sogar schon bis Ende September auf den Tisch legen. Man sei zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass die UBA-Daten die Emissionsmengen bis 2030 »tendenziell unterschätzen«, ist im Prüfbericht des Klimarats zu lesen. Das »Maß der Unterschätzung« liege aber etwa in der Größe des erwähnten »Puffers«, schreiben die Expertinnen und Experten.
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Anders gesagt: Die Reserve von 80 Millionen Tonnen ist nunmehr groß genug, dass bis 2030 das gesamte Budget von rund 6,2 Milliarden Tonnen plus minus null doch eingehalten werden kann. Dieses Okay des Expertenrates kam für viele Beobachter überraschend. Denn letztes Jahr hatte das Gremium noch festgestellt: Deutschland wird sein CO2-Gesamtbudget von 6,2 Milliarden Tonnen bis 2030 nicht einhalten und so das gesetzliche Klimaziel verfehlen.
Als wesentlichen Grund für den Sinneswandel gab der Expertenrat am Donnerstag veränderte Rahmenbedingungen an. Das meint vor allem die Wirtschaft, eine geringere Erzeugung der Industrie und einen geringeren Gütertransport. Die Wirtschaftsentwicklung 2024 sei noch schwächer gewesen, als man bei der letzten Prognose vorausgesagt habe, erläuterte Ratsmitglied Barbara Schlomann. Dazu kam ein milder Winter. All das ließ den für 2030 vermutlich noch übrig bleibenden CO2-»Puffer« von rund 40 Millionen Tonnen auf die aktuellen 80 Millionen anwachsen – diese Reserve trägt Deutschland bis 2030.
Allerdings bewahrt der »Puffer« nach bisherigem Stand Deutschland nicht davor, ein anderes Klimaziel zu reißen – und zwar die Verpflichtung, die Treibhausgas-Emissionen von 1990 bis 2030 um 65 Prozent zu senken. Hierfür zählt nur, was im Jahr 2030 selbst an fossilen Brennstoffen wie Kohle, Gas und Öl verbrannt wird und was an zusätzlichen Emissionen entsteht. Da geht es nicht um ein Budget über zehn Jahre, sondern nur um das eine Jahr. Nach jetziger Prognose werden die Emissionen 2030 nicht bei den klimagesetzlich vorgeschriebenen 438 Millionen Tonnen, sondern deutlich darüber liegen. Die CO2-Reduktion erreicht so nur 63 Prozent. Das hat auch das UBA so vorausgesagt.
»Letztlich werden alle anderen Ziele des Klimagesetzes nicht eingehalten.«
Brigitte Knopf Expertenrat für Klimafragen
Die attestierte Einhaltung des Gesamtbudgets sei »keine Entwarnung«, betont denn auch Brigitte Knopf. »Letztlich werden alle anderen Ziele des Klimagesetzes nicht eingehalten«, erklärt die Vizevorsitzende des Expertenrates. In die Liste bekannter Probleme in den Bereichen Gebäude und Verkehr nimmt der Expertenrat ausdrücklich die neue Lage im Sektor Landnutzung auf. Insbesondere Wälder seien keine CO2-Senke mehr, sondern zu einer CO2-Quelle geworden, warnt der Klimarat. Aufgrund klimabedingter Schäden geben sie inzwischen mehr Kohlenstogg ab, als sie aufnehmen können. Statt 2045 rund 35 Millionen Tonnen CO2 der Atmosphäre zu entnehmen, werden Wälder nach jetzigem Stand dann in etwa diese Menge abgeben.
Dass erfolgreiche Klimapolitik, wie die Zahlen des Expertenrates nahelegen, sich bisher vor allem im Brennstoffwechsel von fossil zu erneuerbar erschöpft, hat langfristig gravierende Folgen. Für den Zeitraum bis 2040 drohen die Emissionsvorgaben so um 500 Millionen Tonnen überzogen zu werden. Das Klimaziel für 2040 – eine CO2-Reduktion um 88 Prozent – wird nach übereinstimmenden Angaben von Expertenrat und UBA wahrscheinlich um 8 Prozentpunkte verfehlt. Noch schlimmer sieht es 2045 aus: Für das Jahr, in dem Deutschland klimaneutral sein soll, lauten die Prognosen derzeit auf Emissionen von 250 Millionen Tonnen CO2.
In den schwarz-roten Koalitionsvertrag setzt Brigitte Knopf dabei wenig Hoffnung. Von diesem gehe »kein nennenswerter positiver« Impuls für das 2030er Klimaziel aus, sagt sie. Zu vieles bleibe vage, oder aufgrund der unklaren Ausgestaltung des Heizungsgesetzes oder des Sondervermögens werde nicht deutlich, wie die Maßnahmen dann wirken. Emissionssteigernd, so Knopf, würden auf jeden Fall die geplante höhere Pendlerpauschale oder die verzögerte Umsetzung der europäischen Gebäuderichtlinie wirken.
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