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Im Sog der Handelskonflikte
EU will Druck auf US-Regierung erhöhen, Ökonomen fordern gezielte Industriepolitik
Handelspolitik ist jenseits spektakulärer Ankündigungen trocken: Bei der Beratung zum Zollstreit der Handels- und Wirtschaftsminister*innen der Europäischen Union am Donnerstag in Brüssel geht es auch um eine 200 Seiten umfassende Liste. Das nunmehr zweite Dokument dieser Art, das die EU-Kommission seit April vorlegt, umfasst US-Industrie- und Agrarerzeugnisse im Wert von 95 Milliarden Euro. Die sollen mit Gegenzöllen belegt werden, sollte die Trump-Regierung in den Verhandlungen nicht einlenken. Zudem schlägt die Kommission Ausfuhrbeschränkungen für Stahlschrott und chemische Erzeugnisse in die USA im Wert von 4,4 Milliarden Euro vor.
»Die EU ist nach wie vor fest entschlossen, in den Verhandlungen mit den USA eine gemeinsame Lösung zu finden«, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Veröffentlichung der Liste. »Wir glauben, dass wir Ergebnisse erzielen können, die den Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks zugutekommen werden.« Parallel strebt von der Leyen ein Verfahren gegen die Vereinigten Staaten vor der Welthandelsorganisation an.
Die EU-Kommission ist mit außen- und handelspolitischen Aufgaben betraut, doch braucht sie für die Umsetzung die Zustimmung der Wirtschafts- und Handelsminister*innen. Für Deutschland verantwortet das Wirtschaftsministerium unter Katherina Reiche (CDU) die Gespräche.
Das Wachstumsmodell der vergangenen Jahrzehnte muss überdacht werden.
Mit den Maßnahmen soll die US-Regierung in den Verhandlungen weiter unter Druck gesetzt werden. Bereits im April hatten die EU-Staaten – mit Ausnahme von Ungarn – sich auf eine Liste von Produkten geeinigt, die mit Gegenzöllen zwischen 10 und 25 Prozent belegt werden. Dazu zählen Harley-Davidson-Motorräder und Jeans, Rindfleisch, Geflügel sowie Nüsse und Sojabohnen. Die Gegenzölle wurden bis zum 14. Juli ausgesetzt, um eine Einigung auf Verhandlungsbasis zu treffen. Seit Anfang April belasten die USA Einfuhren aus Europa mit zusätzlichen Zöllen, wobei derzeit im Rahmen der Verhandlungen Ausnahmen gelten, etwa für Stahl und Aluminium.
Ein anvisiertes Abkommen zwischen Großbritannien und den USA erhöht den Handlungsdruck auf die EU-Minister*innen. Die beiden Länder einigten sich auf ein Rahmenabkommen für US-Agrarprodukte und britische Industrieprodukte. Demnach werden bestimmte Kontingente für Autos oder Flugzeug-Triebwerke aus britischer Fertigung zollfrei gestellt. Im Gegenzug verpflichtet sich Großbritannien zum Kauf von US-Flugzeugen und zur Marktöffnung für US-Produkte wie Rindfleisch und Ethanol. Sollte sich die EU vor diesem Hintergrund nicht bald mit den USA einigen, »könnte die Europäische Union bald eine der letzten Volkswirtschaften ohne bilaterales Abkommen mit den USA sein«, warnte der Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW), Marcel Fratzscher. Dadurch droht ein strategischer Nachteil für die EU-Länder.
Vergangenes Wochenende hatten sich auch China und die USA im Zollstreit angenähert. Demnach sollen US-Zölle auf chinesische Waren von den angekündigten 145 Prozent auf 30 Prozent sinken. Unterhändler der Volksrepublik erklärten sich im Gegenzug bereit, die Abgaben für Einfuhren aus den Vereinigten Staaten von 125 Prozent auf 10 Prozent zu senken. Das sorgt in der EU zwar für etwas Entlastung, weil der befürchtete Importdruck aus China für Stahl und andere Industrieprodukte sinkt. Doch die Vereinbarung zwischen den beiden Ländern gilt zunächst nur für 90 Tage.
Mit Blick auf den schwelenden Konflikt zwischen der Volksrepublik und den USA braucht es laut Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), langfristige Ansätze. »Die USA und China sind in eine Systemkonkurrenz getreten«, erklärte er auf einer IMK-Konferenz am Dienstag. Beide Länder setzen »massiv die Wirtschafts- und Handelspolitik ein, um ihre Ziele zu erreichen«. Das hat insbesondere für exportorientierte Unternehmen in Deutschland gravierende Folgen. Das Wachstumsmodell der vergangenen Jahrzehnte muss überdacht werden, mahnt er.
Nun müssten der europäische Markt stabilisiert und die eigene Nachfrage gestärkt werden, fordert Dullien. »Und wir müssen an Resilienz und strategischer Autonomie arbeiten.« Dazu bedürfe es sicherer Lieferketten und neuer Absatzmärkte. Zudem müssten mit einer gezielten Industriepolitik strategische Sektoren wie die Stahl- und Automobilproduktion sowie die technologische Infrastruktur und die Fertigung von Halbleitern gefördert werden. Entsprechende Maßnahmen sollten jedoch an die Einhaltung sozialer, ökologischer und gewerkschaftlicher Standards geknüpft werden.
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Hier sieht Dullien auch die neue Bundesregierung in der Verantwortung, die aber mit Blick auf den Koalitionsvertrag »kein Bekenntnis zu einer gezielten Industriepolitik« geliefert habe. Es gebe zwar einzelne Instrumente wie Kostensenkungen bei Strom, die Wirtschaftsministerin Reiche umsetzen soll – sie kommt selbst aus der Energiewirtschaft. Doch darüber hinaus »ist kein einheitlicher Ansatz erkennbar«, kritisiert der Ökonom.
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